Heute sind Tru-Vue Stereoskope und Filmrollen von Sammlern heiß begehrt und vor allem in Europa recht schwer zu finden, da nur ein kleiner Teil der Produktion exportiert wurde. Der Werdegang von Tru-Vue ist aber ein spannendes Kapitel in der Geschichte der Stereoskopie.
Gegründet wurde Tru-Vue etwa im Jahr 1931-32 in den Vereinigten Staaten als Tochtergesellschaft der Rock Island Bridge and Iron Works in Rock Island, Illinois, einer kleinen Stadt am Mississippi an der Grenze zu Iowa. Was die Brücken- und Eisenkonstruktionsfirma letztendlich auf die Idee brachte, ein Stereo-System zu entwickeln, bleibt wohl im Dunkel der Geschichte verborgen. Eine mögliche Erklärung könnte die im Sommer 1933 in Chicago abgehaltene Ausstellung "Century of Progress" gewesen sein: zu diesem Anlaß begann nämlich die kommerzielle Vermarktung.
Bereits am 19. Juni 1933 beantragte Joshua H. Bennett aus Rock Island beim United States Patent Office den Schutz seiner Erfindung, dem Tru-Vue Stereoskop. Unter der Nummer 90.564 wurde ihm das Geschmacksmuster am 29. August desselben Jahres erteilt - für eine Zeit von sieben Jahren. Geschützt war darin "das ornamentale Design für ein Stereoskop-Gehäuse", wie es auch auf den begleitenden Zeichnungen abgebildet war.
Schaut man durch das Tru-Vue-Stereoskop, befindet sich unten ein Hebel, der horizontal nach rechts gezogen werden kann, um den Film weiterzutransportieren. Der Film wird in einen Schlitz auf der linken Seite des Betrachters geschoben und so lange gedrückt, bis der Filmanfang auf der anderen Seite des Betrachters wieder herauskommt. Wenn der Filmanfang bündig mit der rechten Betrachterkante ist, steht das erste Bild (das Titelbild) richtig positioniert hinter den Okularen. Nach jedem Bild zieht man den Hebel vorsichtig nach rechts und das nächste Bild erscheint im Blick.
Hat man das Filmende erreicht, wird der Film wieder nach links zurück durch den Betrachter gezogen. Aufgrund der engen Aufwickelung haben heutzutage Tru-Vue-Filme allerdings eine Eigenschaft, die sonst kein anderes Bildmedium zu bieten hat: sie können fliegen. Paßt man nämlich beim Herausziehen des Films nicht auf und entgleitet er den Händen, kann er wie mit Federkraft mehrere Meter durch den Raum schießen.
Die Funktion des Betrachters ist über die Jahre gleich geblieben - nur das Design hat sich verändert. Dem eckigen, vom Art Déco angehauchten ersten Betrachtermodell aus braunem Bakelit mit metallener Frontplatte folgte ein Betrachter mit runderen, stromlinigeren Formen, ganz in schwarzem Bakelit gehalten und inspiriert von den Formen der 40er-Jahre.
In den beiden Jahrzehnten nach der Gründung wuchs Tru-Vue beständig an und eroberte eine beachtliche Marktstellung. Dokumentiert wurden hauptsächlich Städte, Nationalparks, Firmen und Ausstellungen - eben jene Motive, die bereits ein knappes halbes Jahrhundert zuvor in Form von Stereo-Bildkarten die Welt im Sturm erobert hatten.
Und wie viele der antiken Karten wurden auch die Bilder mit großformatigen Kameras aufgenommen: mehrere Stereo Graflex im Format 5" x 7" standen dafür zur Verfügung. Nur das fertige Produkt ging mit der Zeit: Tru-Vue benutzte den recht neuen 35 Millimeter Safety Film von Kodak. Dessen Schichtträger war kupfer- bis goldfarben getönt, um die harten Kontraste abzumildern und das ganze Bild angenehmer und wärmer wirken zu lassen.
Auf jedem Film sind üblicherweise 14 Stereobildpaare im Format 19 x 22 Millimeter. Hinzu kommt am Filmanfang ein 3D-Textdia mit einigen Erklärungen zum Motiv des Films und ein Bildpaar am Schluß, das auf das Filmende hinweist. Auf einem einzelnen Bildfeld am Anfang ist der Filmtitel angeschrieben, auf einem Bildfeld am Ende ist das Produktionsdatum des entsprechenden Filmstreifens aufbelichtet. Dabei darf man sich als Europäer aber nicht vom amerikanischen Format des Datums irreführen lassen: zuerst kommt der Monat, danach erst der Tag und dann das Jahr. Unter 4/8/40 ist also nicht der 4. August sondern der 8. April 1940 zu verstehen.
Die Filme wurden ganz eng zusammengerollt, mit einem Papierchen oder einer Kartonhülse umschlossen und in eben den oben beschriebenen Miniaturschachteln verkauft. Oben und unten auf der Schachtel ist die Bezeichnung des Films sowie die Filmnummer aufgedruckt. Einige der ersten Filme sind noch unnumeriert, so daß nur der Titel aufgestempelt ist. Eine weitere Unterscheidung, ob man einen jüngeren oder älteren Tru-Vue-Filmstreifen vor sich hat, ist anhand der Schachtel möglich: ältere Schachteln sind rot-weiß mit dem Aufdruck "Tru-Vue - Pictures with Depth". Filme späterer Produktion (ab den frühen 40er-Jahren) wurden in rot-silbernen Schachteln ausgeliefert, auf denen nur der Tru-Vue-Schriftzug prangt.
Ende der 30er-Jahre wurde auch das System der Perforationen grundlegend geändert: in den ersten Jahren kopierte man die Stereofilme auf normal perforiertes Filmmaterial, ab Ende der 30er-Jahre wechselte man auf einem speziell für Tru-Vue angefertigten Film, bei dem am oberen Bildrand die normalen Filmperforationen eingestanzt waren, unten allerdings nur alle 42 Millimeter ein Perforationsloch. Damit war es möglich, den Film im Betrachter automatisch so zu positionieren, daß das entsprechende Bild immer richtig und vollständig hinter den Okularen zu liegen kam - auch dann, wenn der Transporthebel beim ersten Versuch nicht vollständig bis zum Ende durchgezogen wurde.
Ein schicksalsträchtiges Jahr war 1938. Die Firma Sawyer's brachte ebenfalls ein Stereosystem heraus, das bis heute überlebt hat: View-Master. Dies war für Tru-Vue der Anlaß, ernsthaft über Farbfilme im Programm nachzudenken. Aufgrund der allgemeinen Materialknappheit verzögerte sich dieser Schritt allerdings bis 1950 - erst zu jenem Zeitpunkt wurden die "Stereochromes" in ihren knallig bunten gelb-rot-blauen Schachteln verkauft.
Im Jahre 1949 hatte der Verkauf die beeindruckende Zahl von 1,5 Millionen Filmstreifen im Jahr erreicht. Zu jenem Zeitpunkt wurden Bestellungen bis nach Indien, Südamerika, Arabien, Kanada und die Philippinen verschickt - die meisten blieben aber in den Vereinigten Staaten.
Die Zukunft von Tru-Vue war bereits sehr fraglich. Die Konkurrenz von View-Master war stark zu spüren, Innovationen gab es so gut wie keine. Doch besaß Tru-Vue die Rechte an 3D-Comic-Zeichnungen von Mickey Mouse, Donald Duck und Alice in the Wonderland. Kurzerhand kaufte View-Master die Firma Tru-Vue 1951 auf, um auch an diese Rechte zu gelangen. Im selben Jahr wurde der Firmensitz sowie die Produktion in Rock Island liquidiert und zu View-Master in Progress, Oregon, verfrachtet.
Dort wurde die Produktion von Filmstreifen noch für ungefähr ein Jahr aufrechterhalten und dann endgültig aufgegeben. In stark abgeänderter Form existierte der Name Tru-Vue aber noch einige Jahre weiter: die Dias wurden auf rechteckige Karten mit sieben Stereobildpaaren montiert, die zur Betrachtung vertikal durch einen Stereobetrachter gezogen werden.
Inzwischen ist der Name Tru-Vue ganz von der Bildfläche verschwunden. Nur hin und wieder erinnert ein kleines Schächtelchen an eine glorreiche Vergangenheit...
Dieser Artikel wurde in 3D-Magazin-Ausgabe 4/95 veröffentlicht. Das 3D-Magazin enthielt in jeder Ausgabe interessante Berichte für alle 3D-Freunde. Überzeugen Sie sich selbst!. |
This article was published in 3D-Magazin Issue 4/95 Every issue of 3D-Magazin contained interesting articles for all 3D-enthusiasts. Have a look!. |
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